Advents-Hysteriker
Das ganze Jahr über verhalten sie sich eher unauffällig. Sobald jedoch das letzte Kalenderblatt zartgolden in Erscheinung tritt, tauchen auch sie – alle Jahre wieder – aus der Versenkung auf: die zu allem bereiten Advents-Hysteriker. Von einem aggressiven Vorweihnachts-Stress-Virus befallen breitet sie sich nun schlagartig und flächendeckend aus, diese unberechenbare Spezies, die man unschwer am missmutigen Gesichtsausdruck, dem hektischen Gehabe und dem ganz und gar nicht christlichen Gebaren erkennen kann.
Von nun an ist äußerste Vorsicht geboten, denn bei diesen Jahresendzeit-Cholerikern ist mit allem zu rechnen. Überall kann man ihnen begegnen und sie kennen kein Pardon: Schon früh morgens an der Bushaltestelle schubsen sie Omis und Opis beim Einsteigen gnadenlos zur Seite, weil sie unbedingt noch einen Sitzplatz an der Tür erwischen wollen, um rechtzeitig da zu sein, wenn die Kaufhausportale sich öffnen und es wieder heißt: Süßer die Kassen nie klingeln.
Dort angekommen stürzen sie hemmungslos durch sämtliche Etagen und rennen Nikoläuse, Tannenbäume und Duftflakon-Pyramiden um, nur um unbedingt die Ersten zu sein, die mit Errungenschaften wie dem „Gemetzel der Zombies 4“ oder „Weihnachten mit Heini und Annelore“ an der Kasse stehen.
Doch Advents-Hysteriker wissen: sie haben das Pech gepachtet. In jedem Jahr landen sie an den Kassen mit den lahmsten, schusseligsten und begriffsstutzigsten Verkäuferinnen, die verhindern, dass die hungrigen Hysteriker sich noch schnell eine ordentliche Portion der Lebkuchenproben im Erdgeschoss einverleiben können, bevor das silberne Tablett leer und der Stand verwaist ist, weil die Blasen der die kostenlosen Köstlichkeiten darbietenden Nikoläusinnen schon wieder mal voll gewesen zu sein scheinen.
Mist, dabei wäre gerade jetzt ein wenig Nervennahrung so wichtig gewesen, zumal die ernährungsbewusste Gattin dem Hysteriker eine strikte Advents-Diät verordnet hat... mit der lapidaren und wenig überzeugend klingenden Erklärung, dass ansonsten nämlich die Bescherung platzen wird, weil der Hausherr Gefahr läuft, dass ihn kurz vor Weihnachten mit lautem Knall das gleiche Schicksal ereilt.
Egal, weiter geht’s. Kampfbereit werden die Ellenbogen ausgefahren und sich sodann der Weg auf der lahmsten Rolltreppe der Republik ohne Rücksicht auf fremde Verluste errempelt. Denn jetzt naht die eigentliche Bewährungsprobe. Da nämlich der leider anscheinend nur in einer Hinsicht fleißige Schwiegersohn das ganze Jahr über nichts anderes zu tun hat, als dem Ruf „Ihr Kinderlein kommet“ tatkräftig zu folgen, muss schließlich auch noch der Spielwarenabteilung ein Besuch abgestattet werden. Und wieder hat er Pech, der Advents-Hysteriker. Ein blonder Rauschgoldengel mit langen Beinen – zu Nicht-Advents-Zeiten durchaus einen zweiten und dritten prüfenden Blick wert – schnappt ihm doch tatsächlich den letzten Harry-Potter-Zauberutensilien-Koffer direkt vor der Nase, von der schon der Schweiß tropft, weg.
Ach ja, zaubern müsste man können, denkt sich der ermattete Advents-Hysteriker und hält unerwartet inne mit versonnenem Blick. Und plötzlich sieht er sich unter Palmen am Strand - mit einem Rumkugel-Cocktail in der Hand und dem blonden, nur spärlich mit einem Weihnachtsservietten-Bikini bekleideten Rauschgoldengel im Arm... allerdings nur so lange, bis der sich als Artgenosse entpuppt und ihm im Vorbeirasen mit voller Wucht den Zauberkoffer in die Rippen rammt.
Lilli U. Kreßner
Die Engelin
Wie war man als Kind doch so gutgläubig! Da stand am einen Ende des Marktplatzes ein Nikolaus und am anderen Ende ebenfalls. Keinen Moment lang hat man sich gefragt, wie das denn überhaupt sein kann. Niemals wäre man auf die Idee gekommen, die beiden zu fragen, wer von ihnen denn nun der echte Nikolaus sei. Und kein bisschen hat man sich gewundert, dass das Original, das am Nikolausabend mit seinem großen Sack und der gefürchteten Rute an der heimischen Haustür stand, viel kleiner war und auch mit ganz anderer Stimme sprach. Nein, nie und nimmer hätte man gezweifelt.
Bezüglich des Christkinds verhielt es sich kaum anders. Das sah man zwar zuhause nie, weil es ja bekanntermaßen sehr scheu war und nur ganz heimlich durch das eigens für es geöffnete Wohnzimmerfenster herein flog, um die Geschenke unter den Tannenbaum zu legen. Aber im Fernsehen, da konnte man es ab und an bewundern. Doch auch hier fragte man sich nicht, wie es sein kann, dass das Christkind, das ja zweifelsfrei männlichen Geschlechtes war (wie seine Eltern Maria und Josef auf Nachfrage im Himmel gewiss sofort mit hundertprozentiger Sicherheit hätten bestätigen können), ganz und gar wie ein Mädchen aussah.
Nein, es war einfach so und musste bestimmt seine Richtigkeit haben. Basta. Wirklich verwundert wäre man wohl nur gewesen, wenn man bis auf den Nikolaus, der am Nikolausabend kam, keinen anderen seiner Gattung zuvor zu Gesicht bekommen hätte. Und wenn der Prolog zur Nürnberger Weihnachtsmarkteröffnung nicht von einem weiblichen Wesen mit langen blonden Locken und ausladendem goldenen Kleid, sondern von einem bärtigen Jüngling in Schlips und Kragen gesprochen worden wäre.
Das Einzige, was mich jedoch schon als Kind ein wenig stutzig machte, war der Artikel „der“ vor der Bezeichnung Engel. Was hatte der liebe Gott sich dabei bloß gedacht? Die mir bekannten Engel hatten allesamt weibliche Züge und kleideten sich auch so. Keiner trug einen Hut oder ein Hemd, geschweige denn eine Hose. Warum aber hieß es dann „der Engel“ und nicht „die Engelin“?
Weder meine Mutter noch meine Großmutter konnten mir sagen, warum das so war. Also musste ich mir selbst was einfallen lassen – und nach längerer Überlegung fand ich schließlich die passende Erklärung: So ururalt, wie er sein musste, hatte der liebe Gott hier eindeutig was verwechselt. Doch nicht schlimm – wenn man schon sooo lange lebte, in mühevoller Schwerstarbeit die Menschen, die Tiere, die Natur, die Erde und den riesengroßen Himmel erschaffen hatte und dann auch noch den grundbösen, hinterhältigen Teufel im Zaum halten musste, dann konnte einem so etwas im Eifer des Gefechts schon mal passieren, wie ich fand.
Einzig allein wirklich wichtig war – Artikel hin oder her – dass ich an Engel glaubte. Gut, heute weiß ich natürlich, dass es keinen „echten“ Nikolaus gibt. Ebenso wenig wie das Christkind. Aber an Engel, da glaube ich noch immer. Tagtäglich begegne ich ihnen. Und manchmal, da tragen die Engel auch wirklich Kleider. Manchmal aber auch Arbeitshosen, Feuerwehruniformen, Schwesternkittel oder ganz gewöhnliche Mäntel. Ja, man kann nie genau wissen, ob nicht gerade ein Engel oder eine Engelin vor einem steht. Deshalb... halten Sie gut die Augen offen!
Lilli U. Kreßner
Glück am Stück
Das Glück ist ein beliebtes Thema. Nicht umsonst gibt es viele Sprichwörter, die sich mit ihm befassen. Ob nun Victor Hugo, der die Meinung vertrat, dass das höchste Glück des Lebens darin besteht, geliebt zu werden, oder Albert Schweitzer, der vollkommen zu Recht der Ansicht war, dass das Glück das Einzige sei, das sich verdoppelt, wenn man es teilt – jede Menge Geistesgrößen haben sich im Laufe der Jahrhunderte des Glückes und seiner Eigenschaften angenommen. Wen wundert es also, dass nun auch die ARD, unsere erste deutsche Fernsehanstalt, eine Themenwoche beginnen lässt, in deren Rahmen sie von ihren Zuschauern wissen will: Was ist Glück?
Ohne Zweifel ist dies eine sehr gute Frage. Vor allen Dingen aber eine, für deren ausreichende Beantwortung eine ARD-Zuschauerin wie ich mindestens so viel Zeit braucht, wie fünf lange Fernsehabende in Anspruch nehmen. Kein Wunder, fallen mir doch, ohne dass ich mich sonderlich anstrengen muss, eine Unmenge Antworten ein.
Zunächst einmal ist Glück nichts, das man kaufen und dann in Einweckgläser oder Flaschen abfüllen kann (obwohl bezüglich Letzterem der ein oder andere Liebhaber geistiger Getränke eventuell geneigt sein könnte, mir zu widersprechen). Nein, das Glück lässt sich nicht packen. Es ist wie ein scheues Reh, dem man nicht hinterherlaufen darf, sonst flüchtet es.
Und wie die Rehe im Wald, so ist auch das Glück ein Meister des Versteckens. Ganz besonders in für uns Selbstverständlichem verbirgt es sich ausgesprochen gerne – und zwar so geschickt, dass wir längst verlernt haben, es zu erkennen. In sauberem Trinkwasser zum Beispiel, in frisch gebackenem Brot, in mollig warmen Winterjacken und kuscheligen Daunendecken. In Sonnenstrahlen, im Anblick des Sternenhimmels und in einer hilfreichen Hand, die zupackt, wenn sie gebraucht wird.
Ja, und selbst, wenn man glaubt, überhaupt keines zu haben, muss man sich nicht stunden- oder gar tagelang auf die Suche nach dem Glück machen. Nein, denn auf ganz einfache Weise kann man ihm begegnen – man muss nur genau hinschauen. In die Augen eines Kindes, das an seinem ersten Tag im Kindergarten durch die Türscheibe plötzlich seine Mutter, die es abholen will, kommen sieht oder in jene der alten Dame, die ganz überraschend Besuch von ihren weit entfernt wohnenden Enkeln bekommt.
Das ist Glück, an dem man teilhaben kann – das kleine Glück vor der eigenen Nase, das man gar zu oft beim Blick auf das vermeintlich große in der Ferne übersieht. Das Verwunderlichste aber ist: Auch wenn man kein Glück hat, kann man trotzdem welches verschenken. Und hat man es dann verschenkt, ist es wie ein Spiegel. Es strahlt zu einem zurück und man erkennt, dass man, wenn man gibt, nicht selten viel mehr zurückbekommt, als man gegeben hat.
Diesen Glücksschatz gilt es zu bewahren. Zum Beispiel, indem man versucht, an jedem Tag aus dem Heute wenigstens eine glückliche Erinnerung für das Morgen mitzunehmen. Sozusagen als Proviant, als Wegzehrung für die Wanderung auf dem oftmals ziemlich holprigen und mit Stolpersteinen übersäten Lebensweg.
Also, halten Sie die Augen auf und ein geräumiges Plätzchen frei in Ihrem Rucksack für jede Menge glückliche Erinnerungen ... viel Glück dabei!
Lilli U. Kreßner